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POSITION IV


Pigmentiert

The Pigmented Shadows of Chronos

Es ist der „Pinsel der Natur“, der so farbenfroh in Sabine Großes Arbeiten schwingt. Zwar wecken Erdtöne der unterschiedlichsten Couleur oder knallbunte Pigmente, die sich in zahlreichen Schichten durchdringen, Assoziationen zur Malerei, jedoch hat keine malende Künstlerhand sie aufgetragen. Akteur ist vielmehr das Licht der Sonne, das Schatten von Gegenständen zeichnet. Um diese zu fixieren, fertigt Sabine Große in einem besonderen Edeldruckverfahren mittels Pigmenten lichtempfindliche Schichten auf schwerem Papier und exponiert diese mit aufgelegten Gegenständen dem Sonnenlicht. Dieser Vorgang wird mehrfach wiederholt. Durch das abermalige Beschichten und Exponieren durchdringen sich geisterhaft die unterschiedlichen belichteten Schatten und fusionieren mit der Farbe zu einem phantomhaften Amalgam.

Die Auseinandersetzung mit Licht, Schatten und Farbe ist von Beginn an das werkübergreifende Thema von Sabine Große. 1995 entstanden die ersten Farbphotogramme auf Farbnegativpapier, in denen sie systematisch Objets trouvés nach Farben ordnete und mit dem Licht einer Taschenlampe oder eines Blitzes belichtete. Gelegentlich experimentierte sie mit Lacken und Wachs direkt auf dem Trägermaterial. Verwandeln die Negativpapiere bei diesem Vorgehen die Farbe jeweils in ihre Komplementärfarbe, so interessierte sie sich später auch für positive Farbumkehrprozesse und hielt die Schatten farbiger Gegenstände auch großformatig auf dem positiven Ilfochromematerial fest.

Farbarchäologie

Als Sabine Große im Jahr 1998 begann, sich mit dem historischen Verfahren des Gummidrucks auseinanderzusetzen, begriff sie sofort die Möglichkeiten, sukzessive Schatten in unterschiedlichen Farben zu belichten, zu schichten und sich überlagern zu lassen. Das Verfahren ermöglichte, Licht und Körperfarben miteinander zu verbinden und somit aus den engen photographischen Farbraumverhältnissen der industriellen Dreifarbenchemie auszubrechen. Mittels dieses seit dem Ende des 19. Jahrhundert bekannten Verfahrens gelingt es ihr, die beschränkte Farbigkeit photographischer Mischfarben zu meiden und Eigenfarben in den lichtempfindlichen Prozeß einzubinden. Zu Recht stellt Floris M. Neusüss fest, daß Sabine Große damit "dem Fotogramm nie gesehene Farbigkeiten beschert" hat. [1] hat. "Kindheitsträume" oder "Zaubermantel" lauten einige Titel der ersten Schattenbilder, die auf Grundlage des Gummidruckverfahrens entstanden. Die Titel verweisen auf den autobiographischen harakter dieser Werke. Sabine Große belichtete hier auf die von ihr selbst beschichteten Papiere den eigenem Körper oder den ihrer Mutter. Mit jeder neuen Schicht, die sie dabei auftrug,überlagerte sie die Körperschatten in jeweils unterschiedlichen Farbgebungen mit den Schatten von Gegenständen aus ihrer Kindheit, die sie nach Jahrzehnten wiederentdeckt hatte. Der Körper erscheint so als Schattenkondensat, das von Kindheitserinnerungen durchdrungen ist. Auch in dem Zyklus"Begegnungen" (2001) schafft Große auf diese Weise sehr individuelle Portraits von alten Menschen in einer Begegnungsstätte, deren Ganzkörperschatten mit den Schatten ihrer Lieblingsgegenstände verschmelzen.

Gummi

Im Sinne Christian Schads könnte man Sabine Großes Arbeiten auch als "Compositionen" betrachten. Als "Compositionen" bezeichnete Christian Schad seine Schattenbilder von Objets trouvés aus seiner Dada-Periode, die erst viel später unter der Bezeichnung "Schadographien" in die Kunstgeschichte eingingen. Auch bei Sabine Große handelt es sich um solche "immateriellen Collagen" [2] von Fundstücken. Im Unterschied zu Schad entsteht das Kompositum jedoch nicht in einem Belichtungsschritt, sondern ein neuer Bildsinn entwickelt sich unvorhersehbar in dem zeitlichen Prozeß des Schichtens. Die Künstlerin betreibt damit in ihren Schattenbildern eine Art inverse Farbarchäologie. Während ein Archäologe Schicht für Schicht abträgt und in frühere Zeiten vordringt, baut die Künstlerin Schicht für Schicht auf und läßt unterschiedliche Objektkonstellationen und Zeiten sich gegenseitig durchdringen.

Sabine Große at work

Das Gummidruckverfahren bedeutet auch einen Schritt aus der Dunkelheit des Labors hinaus in das Tageslicht. Die Papiere müssen zwar im Halbdunkel präpariert werden, doch die handbeschichteten schweren Papiere reagieren hauptsächlich auf den UV-Anteil des Lichts. Deshalb belichtet Große die gummierten Papiere fast ausschließlich bei Sonnenschein unter freiem Himmel. Diesen heliographischen Aspekt der Exposition griff sie performativ anläßlich einer Ausstellung 2003 in Kassel auf. Vor der Ausstellungsstätte bat sie Besucher und neugierige Passanten, für einige Minuten ihr ihren Schatten zu borgen. Jeden Schatten fixierte sie in einer eigenen Farbschicht. Über den Ausstellungszeitraum verdichteten sich die belichteten Schatten so zu einem phantomhaften Ensemble. Arbeiten wie "Besucher" zeugen von dieser geisterhaften Durchdringung und leben durch die Intensität der teilweise äußerst kräftigen Farben.

Sabine Große belebt damit die lange Tradition des Edeldruckverfahrens des Gummidrucks von neuem. Der Gummidruck, der auf eine Erfindung von John Pouncy aus dem Jahr 1858 zurückgeht, wurde insbesondere an der Wende zum 20. Jahrhundert von den Piktorialisten eingesetzt. Der Name des Verfahrens bezieht sich auf das Bindemittel Gummi arabicum, mit dem die Pigmente gebunden werden. Ein spezielles Chromsalz macht das Gummi lichtempfindlich, indem es das Gummi dort aushärten läßt, wo energiereiches UV-haltiges Licht auf die Schicht trifft. Nach der Belichtung werden die Blätter einfach durch ein Wasserbad entwickelt. Die nicht ausgehärteten, unbelichteten Stellen werden so ausgewaschen. Die ausgehärteten Stellen verbleiben auf dem Träger in der jeweiligenFarbe des verwendeten Pigments. Die weniger belichteten Stellen geben hingegen graduell den Blick auf die darunter liegende Schicht frei. Der Träger kann dann wieder von neuem auch mit anderen Pigmenten beschichtet und belichtet werden.

Chronos

Das Verfahren nimmt auf diese Weise das schichtende Element der Malerei auf. Durch die matte, mitunter samtene Oberfläche und das Sfumato der weichen Töne wird die malerische Wirkung sogar verstärkt. Bis zu sechs Mal wiederholt Sabine Große den Prozeß des Beschichtens und Belichtens. Gleichzeitig stellt sich ihr stets die für die Malerei typische Frage: Wann höre ich auf? So kann eine weitere Schicht auch ein bislang gelungenes Bildresultat wieder zerstören.

Die Piktorialisten setzten das Verfahren im Wesentlichen in Kombination mit kameraphotographischen Aufnahmen ein. Diese werden deshalb bis heute in der Kunst eher abschätzig beurteilt, da man in ihnen lediglich den Versuch sieht, photographischen Bildern einen malerischen Ausdruck zu verleihen. Eine Neubewertung des Piktorialismus unternimmt dagegen Wolfgang Ullrich und sieht gerade in der propagierten Unschärfe eine der großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts. [3]
Sabine Großes Arbeiten – und dies ist ein neuer Aspekt, den sie bei diesem Verfahren entdeckt hat – basieren auf dem bewußten Verzicht auf die Kamera. Die Dinge treten sprichwörtlich an die Pigmentschicht heran. Die Aussage von Robert de la Sizeranne (1866-1932), „die Unschärfe verhält sich zum Scharfen wie die Hoffnung zur Übersättigung,“ [4]erhält in den Werken der Künstlerin eine neue Wendung: Es sind die sich überlagernden Unschärfen und Schattenverläufe, die zu sättigenden Überlagerungen und zur Verdichtung von Farben führen.

Diese wird besonders deutlich in der Arbeit an dem Zyklus "Im Walde", die sich mit der Farbe des Bodens in Wäldern, Feldern und an Stränden auseinandersetzt. Verstanden die Piktorialisten unter einem "naturfarbigen Gummidruck"[5] stets einen Dreifarbendruck, so bringt Sabine Große echte Naturpigmente und deren scheinbar unendlichen Möglichkeiten in das Bild. Seit 1998 entnimmt die Künstlerin an ausgewählten Stellen Boden, Äste und Blätter. In ihrem Atelier verarbeitet sie diese Substanzen zu Pigmenten. Sie beschichtet mit ihnen feste Papiere und belichtet diese an derselben Stelle, von der sie die natürlichen Farben entnommen hatte.

Diese irdenen Pigmente wecken Assoziationen zu den Nature Watercolors von Mario Reis [6]. >Mit diesen "Naturaquarellen" dokumentiert der Künstler seit 1977 die Sedimentationsprozesse in Flüssen. Immer wieder sucht er nordamerikanische Fließgewässer auf, um dort Leinwände für mehrere Tage zu exponieren und anschließend die Ablagerungen als quadratische Paneele zu fixieren. Auch wenn bei Sabine Große der Belichtungsprozeß sich in dem kurzen Zeitraum von Minuten ereignet, so verdichtet sich dabei Zeit auf ganz andere Weise in ihrem Werk. Die Künstlerin sucht mitunter über Jahre hinweg immer wieder dieselben Stellen auf, sie sammelt Boden und Oberflächenmaterial, trägt weitere Schichten auf und belichtet abermals. Chronos hinterläßt somit seinen verdichtenden irdenen Schatten. In Arbeiten wie "Am Rondell", "Wiese" oder "Im Walde" hallt der jahreszeitliche Prozeß wider. Letztlich erfahren Begriffe wie Fläche und Oberfläche eine Neudefinition, indem die Künstlerin die Materialität und Körperlichkeit von Erde und Boden mit der Flächigkeit des Bildes verschmelzen läßt.
Tim Otto Roth

English translation: Thilo Reinhard

References:

[1] Neusüss, Floris M.: Kunst und Fotografie, Marburg 2003, p. 144.
[2] Wescher, Herta: Die Geschichte der Collage – vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln 1974, p. 148.
Da Große keine flachen, sondern räumliche Gegenstände komponiert, ist der Begriff der Assemblage eigentlich treffender. So unterscheidet Aron Scharf hinsichtlich Schattenaufnahmen zwischen "auto-recorded collage" und "auto-recorded assemblage". See Scharf, Aaron: Art and Photography, Harmondsworth 1974, p. 232.
[3] Ullrich, Wolfgang: Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde, in: Geimer, Peter: Ordnungen der Sichtbarkeit, Frankfurt 2002, pp. 381-412.
[4] Robert, de la Sizeranne: La Photographie est-elle un art?, in: Revue de deux mondes (November 1897) Nr. 144, pp. 564 - 595, here p. 571.
[5] Behrens, Friedrich: Der Gummidruck – Praktische Anleitung vermittelst Aquarellfarben photographische Bilder herzustellen, Berlin 1898, p. 78.
[6] Vgl. Mario Reis, Retrospektive 50-20-25 (exhibition catalogue), Mainz 2004.


Druckausgabe

POSITION IV: Schatten.Schichten
20 Seiten, vierfarbiger Offsetdruck, A5
mit einem Text von Tim Otto Roth
Sommer 2011

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